Samstag, 3. Dezember 2011

Adam und Bruno -- Teil 3

Teil 3 von 4


»Mithilfe von Zauberkraft wollen wir jetzt einmal den größten Wunsch der Kapitalisten erfüllen: Vom heutigen Tag an mischt sich unser Staat nicht mehr in die Belange der Wirtschaft ein, sodass sich dann alles auf wunderbare Weise von selbst regelt. Falls ein Unternehmen in Konkurs geht, muss das investierte Kapital oder zumindest ein Teil davon als Verlust verbucht werden; aber das Risiko sollte jeder, der sich an der Wirtschaft beteiligt, kennen und sich darauf vorbereiten. Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sind nicht gezwungen, sich sofort in die soziale Hängematte zu begeben, denn wenn die Wirtschaft ohne staatliches Einmischen bleibt, gibt es relativ schnell neue Unternehmen, die Arbeitskräfte einstellen. – Arbeitnehmer haben selbstverständlich keinen Anspruch auf großzügig bezahlte Arbeitsplätze mit der gewünschten Tätigkeit und dann vielleicht noch am Wohnort. Möglicherweise muss er sich zwar um einen zweiten oder sogar um einen dritten Arbeitsplatz bemühen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können, aber das ist alles in Ordnung, denn es ist die wirklich wunderbare Welt des Kapitalismus. Wer in dieser Welt über ein hinreichend großes Kapital verfügen und es gewinnbringend investieren kann, profitiert fraglos von der Zurückhaltung des Staates.«
Bruno ist verwirrt und schweigt. Mit weit geöffneten Augen betrachtet er mich, als hoffe er, in meinem Gesicht die Erklärung für seine Verwirrung zu finden.
»Die ideale Gesellschaft eines Kapitalisten greift unter keinen Umständen in die Wirtschaftsabläufe ein, und die Arbeitnehmer verhalten sich beinahe so wie unbeschränkt einsetzbares Kapital. Sie sind für jede einfache Tätigkeit geeignet, an keinen Ort gebunden und brauchen keinen Urlaub. Was sie allerdings vom Kapital unterscheidet, ist der Bedarf an Finanzmitteln. Zwar ist auch der Einsatz des Kapitals nicht vollkommen umsonst – unter Umständen muss zwar eine Gewinnbeteiligung gezahlt werden –, aber das Kapital verbraucht kein Geld für sich selbst: Es ist wie ein besonders günstiger Sklave, der nicht einmal Nahrung und Unterkunft braucht. Hingegen ist ein Arbeitnehmer für seine Familie und für sich auf Geld angewiesen, was ein nicht unerheblicher Nachteil ist. Überdies sollten wir erkennen, dass sich Menschen noch so sehr zurücknehmen können, für den Kapitalanleger werden sie nie die Qualität von Kapital erreichen. – Es gibt jedoch einen Vergleich, bei dem der Arbeitnehmer besser abschneidet, und zwar im Vergleich mit Maschinen: Ist eine Maschine defekt, muss sie repariert oder sogar erneuert werden; es fallen Kosten für den Unternehmer an. Ein kranker Mensch erhält Hilfe von Medizinern; deren Kosten trägt die Gemeinschaft. Ist der Arbeitnehmer dauerhaft erwerbsunfähig, scheidet er aus dem Arbeitsleben aus, ohne dass dem Unternehmer Kosten entstehen.«
Bruno schweigt weiterhin, also fahre ich fort: »Wie wir inzwischen erkannt haben sollten, ist für den Kapitalismus der ideale Arbeitnehmer extrem flexibel, sodass er überall eingesetzt werden kann. – Stimmst du dem zu, Bruno?«
»Das hört sich richtig an.«
»Danke, das ist gut! – Bis zu diesem Augenblick schien der Kapitalismus eine hervorragende Gesellschaftsform zu sein, aber nun …«
»Schien?«, unterbricht mich Bruno. »Was kommt denn jetzt? Wird wieder alles auf den Kopf gestellt?«
»Wir werden es gleich sehen: Arbeitnehmer, die noch nicht durch Maschinen ersetzt wurden, zeichnet ein hohes Maß an Flexibilität aus – wodurch sie dem Kapital immer ähnlicher werden. Zugleich bewegen sie sich jedoch auf einen Konflikt mit einem weiteren System zu. Während die eine Gesellschaftsform …«
»Als ob Kapitalismus nicht schon kompliziert genug wäre, bist du bereits bei der nächsten Gesellschaftsform angekommen. Inzwischen – wie ich zugeben muss – geht mir der Überblick verloren«, beklagt sich Bruno.
»Wir sind bald am Ziel! – Ich verspreche es!«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Es sind letztlich die Ideen zu zwei Gesellschaften, die unser Leben beeinflussen. Die eine Gesellschaft basiert auf dem Kapital, die andere auf menschlicher Leistung. Auf der einen Seite gibt es gravierende Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften, auf der anderen Seite zeigen sie allerdings auch eine verblüffende Gemeinsamkeit. Dass der Kapitalismus dem Kapital den Vorrang einräumt, ist nicht weiter erstaunlich. Selbst die Feststellung, dass die besten Ergebnisse im Kapitalismus natürlich unter idealen Bedingungen erzielt werden, wird gewiss niemanden in Erstaunen versetzen. Bis zu diesem Punkt gilt das auch für die Leistungsgesellschaft. Doch damit enden schon fast die Gemeinsamkeiten. Während die idealen Bedingungen im Kapitalismus dazu führen, dass eine kleine Oberschicht hemmungslos und ohne dabei überwacht zu werden, ihr Vermögen vergrößern kann, führen ideale Bedingungen in der Leistungsgesellschaft zu einer Spitzenleistung, von der die Gesellschaft im Allgemeinen und die Arbeitnehmer im Besonderen profitieren.«
»Nachdem du die Bedeutung der idealen Bedingungen überzeugend dargestellt hast, würde es mir gefallen, wenn du noch schildern könntest, wie sie aussehen.«
»Aber natürlich, Bruno, das mache ich gern!«
»Da ich inzwischen weiß, wie wichtig sie sind, werde ich etwas aufmerksamer zuhören.«
Bruno scheint die pure Aufmerksamkeit zu sein.
»Stell dir bitte vor, Bruno, jeder, der arbeiten will, muss oder möchte, erhält einen für ihn idealen Arbeitsplatz und jedem Arbeitsplatz wird die dafür geeignetste Arbeitskraft zugeordnet.«
»Das hört sich traumhaft an, doch mit der Realität hat es wohl sehr wenig gemein«, gibt Bruno zu bedenken.
»Zunächst mag es zwar wie eine Utopie aussehen, was aber nicht bedeutet, dass es unmöglich ist, bei der Vergabe von Arbeitsplätzen insbesondere Leistungsgesichtspunkte zu berücksichtigen.«
»Das konnte mich nicht überzeugen, Adam. Ist es nicht bereits schwierig genug, für möglichst viele Arbeitskräfte überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden? Woher sollen die Arbeitskräfte und die passenden Arbeitsplätze eigentlich kommen?«, argwöhnt Bruno.
»Lassen wir es einmal offen, ob es mehr ist als nur eine Theorie. – Bist du einverstanden, Bruno?«
»Ich bin einverstanden!«
»Danke! – Betrachten wir die Arbeitskraft, die einen für sie wirklich idealen Arbeitsplatz erhalten hat. Für sie sollte die Arbeit so sein, als ginge sie nur zu ihrem Vergnügen einer Freizeitbeschäftigung nach. Wie wird ihre Leistung voraussichtlich ausfallen? Dürfen wir auf eine eher gute Leistung hoffen oder eher auf eine schwache?«
»Die Antwort auf diese Frage lässt sich auch ohne die Gabe der Prophetie geben, Adam …«
»… und wie lautet nun deine Antwort?«, unterbreche ich Bruno.
»Wir können ein Maximum an Leistung erwarten.«
»Dürfen wir dieses Ergebnis verallgemeinern, indem wir behaupten, mit jeder Arbeitskraft, die einen idealen Arbeitsplatz erhält, steigt die Gesamtleistung?«
»Diese Frage kann ich ohne Vorbehalt bejahen«, erklärt Bruno.
»Die ideale Arbeitskraft auf dem idealen Arbeitsplatz lässt gute oder sogar sehr gute Leistungen erwarten, wie wir festgestellt haben. Ist es uns jetzt ebenfalls erlaubt, den Umkehrschluss zu ziehen?«
»Mir fällt kein Grund ein, der diese Schlussfolgerung untersagen würde.«
»Danke, Bruno! Jetzt haben wir alles Erforderliche für eine weitreichende Folgerung zusammen.«
»Hoffentlich ist es kein kreißender Berg, der von einer Maus entbunden wird!«, spottet Bruno.
»Das wirst du gleich beurteilen können, sobald du den Schluss gezogen hast.«
»Das Fazit soll also ich ziehen? – Bevor ich der Aufgabe jedoch nachkommen kann, brauche ich wohl noch einige Anhaltspunkte.«
»Und du wirst sie sogleich erhalten, Bruno. – Je näher wir dem Ideal-Kapitalismus kommen, desto mehr gewinnt die Flexibilität an Bedeutung. Nach Möglichkeit sollen die Arbeitnehmer auf jedem einfachen Arbeitsplatz einsetzbar sein. Was heißt das für betroffene Arbeitnehmer?«
»Hier folgt nun mein Fazit: Ein wesentlicher Anteil an unserem hohen Lebensstandard ist auf die Spezialisierung der Berufe zurückzuführen. Die Forderung, Arbeitslose hätten jeden angebotenen Arbeitsplatz anzunehmen, ist ein direkter Angriff auf eine sehr wichtige Voraussetzung für unseren hohen Lebensstandard.«

Viele Grüße
Wolf-Gero Bajohr

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2 Kommentare:

  1. Hallo, Wolf-Gero!

    Bei Deinen Ausführungen fällt mir in den Wechselbeziehungen von Unternehmer - Kapital - Arbeitnehmer auf, dass tatsächlich die Arbeitnehmer in den letzten 30 Jahren immer mehr anonymisiert wurden, wie das Kapital. Während frühere Arbeitgeber sich noch für "ihre Leute" interessierten und ihnen sogar mit dem Bau von Schulen und Dienstwohnungen zu einem besseren Lebensstandard verhalfen (die Arbeitnehmer sich andererseits ihrem "Brötchengeber" verbunden fühlten und das durch Leistung ausdrückten), ist die Masse der Arbeitnehmer nur noch ein Faktor, der beliebig eingesetzt und ausgetauscht werden kann.
    Die Qualität des Arbeitslebens hat sich kontinuierlich mit dem Niedergang der sozialen Anforderungen und Leistungen im Berufsleben entschieden verschlechtert.

    VlG Elke

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  2. Hallo Elke!

    Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: In Vorkriegszeiten wird bereits dem zukünftigen Gegner durch Diffamierung das vollwertige Menschsein abgesprochen. Wenn der Feind nicht einmal aus vollwertigen Menschen besteht, dann muss er vernichtet werden. Skrupel braucht man dann nicht zu haben, denn schließlich geht es ja nicht um vollwertige Menschen.

    Damit kein Missverständnis entsteht, betone ich ausdrücklich, dass die vorangehenden Zeilen keine Aufforderung zur Kriegsvorbereitung sein soll.

    Viele liebe Grüße
    Wolf-Gero

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